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Einführung in die medizinische Biometrie

Evidenz-basierte Medizin

Definition

  • Evidenz-basierte Medizin (EbM) ist der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten.
  • Sie kombiniert die individuelle klinische Expertise mit der besten verfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung.

Bedeutung

  • Ziel: Verbesserung der Patientenversorgung durch Anwendung aktueller und validierter Forschungsergebnisse.
  • Herausforderung: Ständig wachsende Menge an medizinischer Literatur und Studien erfordert systematische Methoden, um die relevantesten und verlässlichsten Informationen zu identifizieren.

Anwendung

  • Kliniker nutzen EbM, um diagnostische Tests zu bewerten, Therapieoptionen zu vergleichen und Prognosen abzuschätzen.
  • Entscheidungsfindung basiert auf der besten verfügbaren Evidenz, den klinischen Erfahrungen des Arztes und den Präferenzen des Patienten.

Fallstudien

Beschreibung

  • Fallstudien sind detaillierte Beschreibungen einzelner Patientenfälle oder kleiner Patientengruppen.
  • Sie bieten Einblicke in ungewöhnliche oder neue medizinische Phänomene.

Merkmale

  • Vorteile:
    • Nützlich zur Generierung neuer Hypothesen.
    • Können seltene oder neuartige Krankheitsbilder dokumentieren.
  • Nachteile:
    • Begrenzte Aussagekraft aufgrund fehlender Kontrollgruppen.
    • Keine Möglichkeit, Kausalzusammenhänge zu bestimmen.

Anwendung

  • Häufig verwendet, um erste Beobachtungen über neue Erkrankungen oder Nebenwirkungen von Medikamenten zu berichten.
  • Dienen als Ausgangspunkt für weiterführende Studien.

Ökologische Studien

Beschreibung

  • Untersuchung von Populationen oder Subpopulationen hinsichtlich der Häufigkeit von Krankheiten und möglicher Expositionen.
  • Analysiert werden Daten auf aggregierter Ebene (z. B. Länder, Regionen), nicht auf individueller Ebene.

Merkmale

  • Exposition: Kann als mittlerer Wert oder durch Surrogate gemessen werden.
  • Risiko des ökologischen Bias: Eine Assoziation auf Populationsebene spiegelt nicht unbedingt die Assoziation auf individueller Ebene wider.
  • Vorteile:
    • Geringe Kosten und schnelle Durchführung.
    • Nützlich zur Identifizierung von Trends und Hypothesenbildung.
  • Nachteile:
    • Begrenzte Möglichkeit, individuelle Risikofaktoren zu identifizieren.
    • Anfällig für Confounding-Faktoren auf Populationsebene.

Beispiele

  • John Snow und die Cholera:
    • Untersuchte 1854 den Cholera-Ausbruch in London.
    • Identifizierte die Wasserpumpe in der Broad Street als Infektionsquelle durch Mapping der Cholera-Fälle.
  • Ploubidis et al. (2012):
    • Studie zur Tuberkulose in Europa.
    • Analysierte den Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Faktoren und der Tuberkulose-Inzidenz in verschiedenen Ländern.
  • Nikolopoulos et al. (2011):
    • Untersuchung der H1N1-Mortalität in Zusammenhang mit Gesundheitsausgaben.

Querschnittsstudien

Beschreibung

  • Erhebung von Daten zu einem bestimmten Zeitpunkt oder innerhalb eines kurzen Zeitraums.
  • Erfassen gleichzeitig Exposition und Outcome in einer definierten Population.

Merkmale

  • Ziel: Bestimmung der Prävalenz einer Erkrankung oder eines Risikofaktors.
  • Vorteile:
    • Schnell und kostengünstig.
    • Nützlich zur Generierung von Hypothesen und zur Planung weiterer Studien.
  • Nachteile:
    • Keine Aussage über Kausalität oder zeitliche Abfolge von Exposition und Outcome.
    • Anfällig für Selektionsbias und Confounding.

Anwendung

  • Gesundheitsbefragungen zur Ermittlung der Häufigkeit von Risikofaktoren (z. B. Rauchen, Übergewicht) in der Bevölkerung.
  • Ermittlung des Zusammenhangs zwischen Expositionen und Gesundheitszuständen zu einem bestimmten Zeitpunkt.

Fall-Kontroll-Studien

Beschreibung

  • Retrospektive Beobachtungsstudie, bei der Personen mit einer bestimmten Erkrankung (Fälle) mit Personen ohne diese Erkrankung (Kontrollen) verglichen werden.
  • Ziel ist es, die Exposition gegenüber potenziellen Risikofaktoren in beiden Gruppen zu untersuchen.

Merkmale

  • Auswahl der Fälle: Personen mit der interessierenden Erkrankung.
  • Auswahl der Kontrollen: Personen ohne die Erkrankung, aber ansonsten vergleichbar (Alter, Geschlecht).
  • Datenerhebung: Rückblickend Erfassung der Exposition.
  • Analyse:
    • Berechnung des Odds Ratios (OR) als Maß für die Stärke des Zusammenhangs zwischen Exposition und Erkrankung.

Vorteile

  • Effizienz: Geeignet für seltene Krankheiten oder Krankheiten mit langer Latenzzeit.
  • Ressourcen: Kürzere Dauer und geringere Kosten im Vergleich zu Kohortenstudien.
  • Flexibilität: Möglichkeit, mehrere Risikofaktoren gleichzeitig zu untersuchen.

Nachteile

  • Bias-Risiken:
    • Recall-Bias: Unterschiedliches Erinnerungsvermögen zwischen Fällen und Kontrollen.
    • Selektionsbias: Fälle und Kontrollen können sich in unbeobachteten Merkmalen unterscheiden.
  • Keine Inzidenzberechnung: Aufgrund des retrospektiven Designs.

Historisches Beispiel

  • Studie von Doll und Hill (1950):
    • Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Rauchen und Lungenkrebs.
    • Rekrutierung von 709 Lungenkrebs-Patienten und 709 Kontrollen in Londoner Krankenhäusern.
    • Feststellung einer starken Assoziation zwischen Rauchen und Lungenkrebs (OR = 14,04).

Kritische Betrachtung

  • Kausalität: Aufgrund des retrospektiven Designs ist eine direkte Aussage über Kausalzusammenhänge schwierig.
  • Kritik von R.A. Fisher:
    • Hinterfragte, ob genetische Faktoren sowohl das Rauchen als auch das Krebsrisiko beeinflussen könnten.

Kohortenstudien

Beschreibung

  • Prospektive Beobachtungsstudie, bei der eine definierte Population (Kohorte) über einen bestimmten Zeitraum beobachtet wird, um das Auftreten von Krankheiten in Bezug auf die Exposition zu untersuchen.

Merkmale

  • Exposition: Zu Beginn werden exponierte und nicht-exponierte Personen identifiziert.
  • Follow-up: Langfristige Beobachtung zur Erfassung von Neuerkrankungen.
  • Analyse:
    • Berechnung von Inzidenzraten und relativen Risiken (RR).

Vorteile

  • Zeitlicher Zusammenhang: Klare Festlegung von Exposition und nachfolgendem Outcome.
  • Mehrere Outcomes: Untersuchung verschiedener Erkrankungen in Bezug auf eine Exposition.
  • Direkte Risikoberechnung: Möglichkeit, Inzidenz und absolutes Risiko zu bestimmen.

Nachteile

  • Ressourcenintensiv: Lange Dauer und hohe Kosten.
  • Drop-outs: Risiko des Studienabbruchs von Teilnehmern.
  • Ungeeignet für seltene Krankheiten: Aufgrund der notwendigen großen Stichprobengröße.

Historisches Beispiel

  • British Doctors Study von Doll und Hill:
    • Langzeitstudie über die Auswirkungen des Rauchens auf die Gesundheit britischer Ärzte.
    • Start mit ca. 60.000 Ärzten, Beobachtungszeitraum von über 50 Jahren.
    • Feststellung eines erhöhten Sterberisikos durch Rauchen.

Anwendung

  • Untersuchung von Berufsrisiken (z. B. Asbestexposition und Lungenkrebs).
  • Erforschung von Lebensstilfaktoren (z. B. Ernährung, körperliche Aktivität) und deren Einfluss auf chronische Krankheiten.

Vergleich von Kohorten- und Fall-Kontroll-Studien

Gemeinsamkeiten

  • Beide sind Beobachtungsstudien und untersuchen den Zusammenhang zwischen Exposition und Krankheit.
  • Eignen sich zur Erforschung von Risikofaktoren.

Unterschiede

MerkmalKohortenstudieFall-Kontroll-Studie
BeobachtungsrichtungProspektivRetrospektiv
Dauer und KostenLang und kostenintensivKurz und kostengünstig
Geeignet für seltene ExpositionenJaNein
Geeignet für seltene KrankheitenNeinJa
Untersuchung mehrerer OutcomesJaNein
Untersuchung mehrerer ExpositionenNeinJa
Bias-RisikenWeniger anfällig für Recall-BiasHöheres Risiko für Recall-Bias
DatenqualitätHöher, da prospektiv erhobenAbhängig von Erinnerung der Teilnehmer

Eignung verschiedener Studientypen

AnwendungÖkologische StudieQuerschnittsstudieFall-Kontroll-StudieKohortenstudie
Erforschung seltener Krankheiten++++-++++-
Erforschung seltener Expositionen++--++++
Messung von Inzidenz---++++
Untersuchung langer Latenzzeiten--++-
Messung zeitlicher Beziehungen++--++++

Legende: ++++ = sehr gut geeignet, ++ = gut geeignet, - = nicht geeignet


Routinedaten

Beschreibung

  • Verwendung von Daten, die im Rahmen der Gesundheitsversorgung routinemäßig erhoben werden, jedoch nicht primär für Forschungszwecke gedacht sind.

Beispiele

  • Krankenhausdaten: Patientenakten, Behandlungsdaten.
  • Krankenversicherungsdaten: Abrechnungsdaten, Diagnosen, Verordnungen.
  • Registerdaten: Krebsregister, Geburtsregister.

Vorteile

  • Verfügbarkeit: Bereits vorhandene Daten, keine zusätzliche Datenerhebung notwendig.
  • Kosten: Geringere Kosten im Vergleich zu Primärdatenerhebungen.
  • Größe: Große Stichproben ermöglichen Untersuchungen seltener Ereignisse.

Herausforderungen

  • Datenqualität: Variiert je nach Erfassungssystem, potenzielle Fehlerquellen.
  • Definition von Fällen: Standardisierte Kriterien erforderlich.
  • Verallgemeinerbarkeit: Population möglicherweise nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung.
  • Datenschutz: Strenge Regelungen zum Schutz personenbezogener Daten.

Anwendung

  • Überwachung von Krankheitsausbrüchen.
  • Bewertung von Gesundheitsleistungen und Versorgungsqualität.
  • Pharmakovigilanz: Überwachung von Medikamentensicherheit nach Markteinführung.

Wichtige Fragen bei der Nutzung von Routinedaten

  • Wie wird ein Fall definiert?: Klare und einheitliche Kriterien notwendig.
  • Ist die Population verallgemeinerbar?: Sind die Ergebnisse auf andere Populationen übertragbar?
  • Wie gut ist die Datenqualität?: Validität und Reliabilität der erhobenen Daten.

Analytische Variabilität in verschiedenen Studientypen

  • Unsicherheiten können durch verschiedene Faktoren entstehen:
    • Messfehler: Ungenauigkeiten in der Datenerfassung.
    • Unbekannte Confounder: Nicht gemessene Variablen, die das Ergebnis beeinflussen.
    • Modellannahmen: Vereinfachungen oder Annahmen in statistischen Modellen.
    • Methodenunsicherheit: Unterschiedliche statistische Methoden können zu verschiedenen Ergebnissen führen.

Conflicting Evidence (Widersprüchliche Evidenz)

  • Phänomen: Unterschiedliche Studien zu demselben Thema kommen zu unterschiedlichen oder gegensätzlichen Ergebnissen.
  • Mögliche Ursachen:
    • Unterschiedliche Studiendesigns und Methoden.
    • Variabilität in der Datenqualität oder -quelle.
    • Unterschiedliche Populationen oder Expositionslevel.
    • Publikationsbias: Positive Ergebnisse werden eher veröffentlicht.
  • Umgang mit widersprüchlicher Evidenz:
    • Durchführung von systematischen Übersichtsarbeiten und Meta-Analysen.
    • Kritische Bewertung der Studienqualität.
    • Betrachtung des Gesamtkontexts und weiterer Evidenzquellen.

Fazit: Das Studiendesign spielt eine entscheidende Rolle in der medizinischen Forschung. Die Wahl des geeigneten Designs hängt von der Fragestellung, der Verfügbarkeit von Ressourcen und Daten sowie den ethischen und praktischen Rahmenbedingungen ab. Ein fundiertes Verständnis der verschiedenen Studientypen und ihrer Stärken und Schwächen ist essentiell für die Durchführung und Interpretation epidemiologischer Studien.